Text im Katalog zur Ausstellung
»Rauschen und Dämmern«, 2014
von Belinda Grace Gardner
in der Fabrik der Künste, Hamburg
Am Umkehrpunkt
Peter Wehrs Wanderer zwischen Dunkelheit und Dämmerung
Wehr personifiziert hier das Apollinische und das Dionysische, das Friedrich Nietzsche in seiner philosophischen Schriftenkompilation »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« (1872) als sich gegenseitig aneinander reibende, sich dabei befruchtende und ergänzende antipodische Energien gefasst hat, in zwei Figuren, die aneinanderlehnen, sich gegenseitig stützen. Die eine Figur nimmt in der Luft Maß, die andere findet Halt auf dem Erdboden, die eine plant, die andere lässt die Gedanken frei schweifen. Beide Vorgehensweisen zusammengenommen sind Voraussetzung für Veränderung, Gestaltung, Schöpfung, Form und Kunst. In »eins und doch verschieden« lässt Wehr seine Wanderer für einen Moment ausruhen und sich für das nächste Abenteuer, die nächste Unternehmung sammeln. In diesem momenthaften, konzertierten, konzentrierten An- und Innehalten, das aber nicht passiv erscheint, liegt ein Gegenentwurf zur hektischen Betriebsamkeit seiner rastlos Suchenden: jene von dem Künstler wiederholt beschworene Umkehr, mit der sich die Menschheit vor dem drohenden Untergang vielleicht noch retten könnte.
Als »Wechselspiel von Auftauchen und Verschwinden, von Flucht und Herausforderung«13 hat Sartre die Unfassbarkeit der in Auflösung befindlichen Gestalten in Bildern Alberto Giacomettis bezeichnet. Die Schreitenden, die Giacometti in verschiedenen skulpturalen Versionen ab den späten 1940er Jahren realisierte, evozieren wiederum das Auf-der-Durchreise-Sein des modernen Menschen und deuten auf die existenzielle Grundbefindlichkeit des Unbehaustseins, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg als ästhetische und geistige Haltung niederschlug. In Peter Wehrs Szenarien einer Welt, die mittels ihrer menschlichen Bewohner im Begriff ist, sich selbst abzuschaffen, wird uns unsere aktuelle Gefahrensituation in aller Dringlichkeit nahegebracht. Die Schreitenden, Eilenden, Ruhenden und Sinnierenden in seiner Malerei des Zwielichts stimmen eine Klage darüber an, dass es Menschen gibt, die durch Not und Krieg, Verfolgung und Verlust von Ort und Perspektive vielleicht immerzu in der Dämmerung unterwegs sind und niemals ihr Ziel zu erreichen vermögen. Sie geben aber auch denen Gestalt, die panisch wie die Lemminge in die Dunkelheit stürzen. Und jenen, die – von der Macht des Profits getrieben – voller Hybris die Basis vernichten, in der wir alle wurzeln. Viele der Figuren seiner Papierarbeiten sind Zwischenwesen, die wie Giacomettis »Taumelnder Mann« von 1950 (Musée Calvet, Avignon) auf »Balancesuche«14 zum »Sinnbild des ins Leben geworfenen Menschen, der sich selbst entwirft«15, werden. Diejenigen, die standfest und phantasievoll, hellwach und träumend zugleich ihren Aktivitäten oder Gedanken nachgehen, sind mögliche Retter in diesem Spiel des (Über-)Lebens, die den Absturz in die »unendliche Dunkelheit« verhindern können.
Peter Wehr richtet sein Augenmerk aber nicht nur auf uns Menschen, auf die Verlorenen, Fliehenden und Getriebenen und auf diejenigen, die sich gegen Ohnmacht und Verantwortungslosigkeit auflehnen und Neues wagen. Die Natur mit ihren Landschaften, Bergen, Himmelsweiten und vor dem Aussterben bedrohten Tieren ist ebenfalls ein zentrales Thema in seinem Werk. »Was sagen die Berge?«16: Diese Frage stellt der Künstler auf verschiedenen Ebenen in einer offenen Serie von Aquarellen, die seit 1992 entsteht. Welche Botschaften hat die Natur an uns, die Menschen, die ihr den Lebensraum abgraben, aushöhlen, zerstören? Und können wir lernen, Natur zu hören und zu lesen? Wehr lebt seit vielen Jahren über lange Zeiträume eines Jahres auf der spanischen Insel Fuerteventura, wo die Landschaft karg ist, aber ebenso widerständig wie Prometheus, der das Feuer vom Sonnenwagen des Olymps stahl, um den Menschen die Flamme der Erkenntnis zu bringen. Damit zog er Zeus’ Unmut auf sich und war dazu verdammt, endlose Jahre an einen Felsen in der skythischen Einöde geschmiedet qualvoll auszuharren, während ihm ein Adler täglich die Leber fraß. Die etliche Millionen Jahre alte Vulkaninsel Fuerteventura mit ihren vom Lavasand verdunkelten Windstürmen und ihrer urzeitlichen Natur hat Wehrs Malerei und zeichnerische Arbeiten stark geprägt. Gerade in den Landschaften macht sich der Einfluss des realen Vorbildes bemerkbar, einer »unwirtlichen Natur«17, durchzogen von »Berghöhen wie in den Bergraum exponiert«18, die an Wolken stoßen: eine Begegnung zwischen Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit, dem Kantigen und dem Weichen, dem Materiellen und dem Immateriellen, der Wehr seit 2000 in Variationen Gestalt gibt.
Auch diesen Arbeiten wohnt eine Dialektik zwischen An- und Abwesenheit, zwischen der über Jahrmillionen entstandenen Formierung der Landschaft und deren schneller Zerstörung durch menschliche Destruktion und Unachtsamkeit inne. Wie Günther Gercken im Katalog »¿Qué hablan las montanas?« geschrieben hat, hält Wehr die Natur »mit den Augen des Fremden« fest: »Er sieht das Gewordene aus Vulkanismus und Erosion, und er sieht die Landschaft bereits als Vergehende, insbesondere weil die Menschen sie als Aktionsraum benutzen und vernutzen werden. So halten die Bilder die Schönheit der Natur als ein Erhaschen vor dem Verschwinden fest.«19 Wehr sieht diese Schönheit wie in Zeitraffer vergehen, im beschleunigten Tempo und den »technischen Rhythmen«20 unseres heutigen, vom Geschwindigkeitsexzess«21 regierten Lebens. In diesen Landschaften gibt er den Bergen eine Stimme, die teils als poetische Zeilen die Ansichten flankiert wie die Strophe eines Liedes. Hier ist Natur noch präsent, begegnen sich Berge und Wolken wie im Zwiegespräch. Die Gruppe von Figurenbildern, die eingangs angesprochen wurden, ist wie ein Abgesang auf eine vergangene Ära, die kaum noch zurückzuholen ist. Das Licht am Firmament ist ebenso verglommen wie die Zukunft. Und über das wüste Land fegt ein Wind, der die Rufe der Verlaufenen davonträgt, dessen Rauschen sich über alles legt und den »Schrecken im Grunde der Welt«22, wie Gunnar F. Gerlach den Ort der Finsternis in seinem Beitrag zum Katalog »Hombres« mit Männern und Mischwesen von Peter Wehr treffend benannt hat, zum Klingen bringt. Wehrs Akteure, bis auf weiteres in der Schwebe gehalten »zwischen allen Welten«23 befinden sich am Umkehrpunkt, an dem noch alles möglich ist. Dort, auf der spanischen Vulkaninsel, wo der Künstler sein zweites Zuhause hat, geht, wie er sagt, »die Sonne fast immer klar auf«24. Wenn die Nacht am dunkelsten ist, bricht kurz darauf der Morgen an. Und ein neuer Tag beginnt.
Belinda Grace Gardner
Anmerkungen:
1 Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos (Erstausgabe: Le Mythe de Sisyphe, Paris 1942), aus d. Franz. neu übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Vincent von Wroblewsky (Paris 1942), Reinbek bei Hamburg 2012, S. 145.
2 Peter Wehr in einem Statement zu seinen Arbeiten, der Autorin per Mail am 17. Dezember 2013 zugeschickt.
3 Ebd.
4 Peter Wehr im Gespräch mit der Autorin in seinem Hamburger Atelier am 5. November 2013.
5 Albert Camus, Reinbek bei Hamburg 2012, S. 145.
6 Ebd.
7 Ebd.
8 Peter Wehr, Statement, 17. Dezember 2013.
9 Ebd.
10 Peter Wehr in einem Telefonat mit der Autorin in Hamburg, 27. Januar 2014.
11 Ders., Statement, 17. Dezember 2013.
12 Ebd.
13 Jean-Paul Sartre: Die Suche nach dem Absoluten. Texte zur bildenden Kunst, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, in Zusammenarbeit mit dem Autor und Arlette Elkaïm-Sartre, begründet von Traugott König, herausgegeben von Vincent von Wroblewsky, Schriften zur bildenden Kunst und Musik, Bd. 1, Deutsch von Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 36f.
14 Uta Ruhkamp: Taumeln – Die Umstülpung von Körper und Raum. Der Taumelnde, 1950, in: Alberto Giacometti. Der Ursprung des Raumes, Ausst.-Kat. (Kunstmuseum Wolfsburg 2010/2011; Museum der Moderne Mönchsberg, Salzburg, 2011), herausgegeben von Markus Brüderlin und Toni Stoss, Ostfildern 2010, S. 106.
15 Ebd.
16 Peter Wehr im Gespräch mit der Autorin in seinem Hamburger Atelier am 5. November 2013. Diese Frage war auch Titel einer Katalogs mit Landschaften des Künstlers, die zwischen 1992 und 2003 auf Fuerteventura entstanden sind (veröffentlicht anlässlich der Ausstellung: ¿Qué hablan las montanas?, La Oliva, Fuerteventura 2003).
17 Günther Gercken: Natur – Landschaft – Mensch, in: ¿Qué hablan los montanas?, Ausst.-Kat. (Torre de El Tostón Cotillo, La Oliva, Fuerteventura 2003), span./dt., Übersetzungen von Ariane Bonet Eggers, Fuerteventura 2003, S. 11.
18 Ebd.
19 Ebd.
20 Paul Virilio: Metempsychose des Passagiers, aus d. Franz. v. Ulrich Raulff, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. v. Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter, Leipzig 1992, S. 95.
21 Ebd.
22 Gunnar F. Gerlach: ZwischenWelten, ZwischenSein. Gedanken zur Bilderwelt der »Hombres« (Mannsbilder) von Peter Wehr, in: Peter Wehr: »Hombres. Hombres místicos, hombres míticos«, Ausst.-Kat., dt./span. (Casa de los Coroneles, La Oliva, Fuerteventura, 2010), Freiburg i. Br. 2010, S. 15.
23 Ebd., S. 13.
24 Peter Wehr im Gespräch, Hamburg, 5. November 2013.
Noch rollt der Stein.
Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos1
Die Erde ist verbrannt. Eine Wüstenei erstreckt sich bis an den Rand der Nacht. In dieser Einöde irren einzelne Menschenwesen umher, laufen nackt, schutzlos aneinander vorbei. Wie Getriebene eilen sie über die karge Ebene, verpassen die Gelegenheit zum Zusammenschluss, rennen weiter, jeder für sich, jeder allein. Ein Refugium ist nicht in Sicht. Auf solchem Terrain gibt es keinen Unterschlupf, kein Heimkommen und keinen Silberstreif am Horizont. In einer Reihe von dunklen Landschaften, die seit 2011 entstehen, rückt der Hamburger Maler Peter Wehr ein beklemmendes Endzeitszenario in den Blick. Die versprengten Gestalten hetzen darin scheinbar kopflos ihrem Untergang entgegen. Würden sie einen Moment innehalten, könnten sie das Ruder womöglich noch herumreißen. So aber laufen sie ohne Richtung, ohne Rettung, ohne Ziel. Wehr evoziert in diesen Bildern, die Titel wie »Wahrscheinlich am Ende des Lichts« (2011), »nicht enden sich wenden« (2013), oder »hinfort-laufend« (2013) tragen, eine düstere Aussicht auf eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. Eine Welt, die von uns Menschen restlos verwüstet worden ist, weil wir die lebenswichtige Bedeutung der natürlichen Umwelt für unser Dasein nicht erkannt, deren Reichtum auf eine ökonomische Ressource reduziert und verschleudert haben. Seine Umherhastenden sind in einen archaischen, vorbewussten Zustand zurückgefallen, in dem die »Urinstinkte und Emotionen des Menschen wie Habgier und Eigennutz (...) das Vertrauen in die Existenz eines klärenden Verstandes«2 aushebeln. In der von uns selbst verursachten Krisenlage auf unserem Planeten sieht der Künstler eine zunehmende Gefahr, dass »die dunklen Seiten des Menschen das Positive in ihm immer mehr verschatten«3. Wehrs rastlose, zwischen Sinnsuche und Verlorenheit mäandernde Geschöpfe, die sich durch ein zeit- und ortloses Gebiet bewegen, sind golemartige »Symbolfiguren des Allgemeinmenschlichen, Figuren ohne Attribute«4, die für jeden und jede von uns stehen können.
So lassen sie einerseits an Jean-Paul Sartres in die Welt geworfenen existenzialistischen (Anti-)Helden denken, die auf der Flucht vor der Absurdität des Daseins in ziellosen Aktivismus verfallen sind. Oder an Albert Camus’ Sisyphos, der seinen »in Nacht gehüllten Berg«5 immer und immer wieder besteigt, um den stets herabrollenden Stein jeden Tag aufs Neue empor zu stemmen. Doch wie auch Camus glaubt Wehr an den Sinn der kreativen Handlung, die im Stande ist, etwas in Bewegung zu bringen und, wenn nicht Berge, dann doch Steine zu versetzen. Und an die selbstverantwortliche Freiheit des bewusst Handelnden, der auf diese Weise »Herr seiner Tage«6 wird und im metaphorischen »Kampf gegen Gipfel«7 Erfüllung und Sinn zu finden vermag. Wehrs Bildräume stehen unter Spannung, vereinen Ambivalenzen und Schwebezustände, in denen das Lichte und das Dunkle, Tag und Nacht, das Ungestaltete und das Gestaltete, Furcht und Mut, Leben und Tod, Tag und Traum als widerstrebende, aber auch notwendig zusammengehörige Phänomene aufeinander treffen.
Diese manifestieren sich auch in den Dynamiken des »Rauschens« und »Dämmerns«, um die das Werk des Künstlers wesentlich kreist. Das »Rauschen« steht in der persönlichen Kosmologie oder, im Sinne Harald Szeemanns, der individuellen Mythologie Wehrs für »die fremde, nächtliche Tiefe in uns, der nicht zu entziffernde Anteil unseres Seins, überlagert von der eigenen Entwicklung und der ungeklärten Herkunft unserer Emotionen«8. Das »Dämmern« wiederum deutet der Künstler als »Zustand zwischen Tag und Nacht und Nacht und Tag. Vielleicht bricht ein neuer Tag an, es geschieht etwas und unsere Hoffnungen für ein neues Morgen werden erfüllt. Oder aber das Dämmern der Nacht zieht herauf und führt in die unendliche Dunkelheit: der Weg in ein Nirgendwo«9. Zwischen hereinbrechender Nacht und heraufsteigendem Tag entfalten sich die Szenen des Lebens, die Wehr in den Sphären seiner Malerei aktiv werden lässt. Die Sorge, dass wir uns durch Gier und Verblendung selbst zur Strecke bringen, samt der Erde, die uns Menschen und den Raum der Natur mit ihrer Flora und Fauna birgt, durchwirkt sein Schaffen. Und doch ist es, bei allem gebotenen Pessimismus, ein zutiefst von ethischen Überzeugungen erfülltes, dabei dann wieder hochoptimistisches Werk, das letztlich der Hoffnung Ausdruck verleiht, dass der Tag nicht von der Nacht ausgelöscht werden möge und dass sich die Vernunft als gestalterisch-ordnendes Prinzip dem potenziellen Chaos der »unendlichen Dunkelheit« entgegenstelle.
Tatsächlich ist selbst die Dunkelheit bei Peter Wehr unterschwellig von buntem Leuchten erfüllt: Der Zusammenklang vieler verschiedener Farben, die übereinander geschichtet sind, erzeugt jene Dämmerung, die in beide Richtungen umschlagen kann. Wehrs mittels farblicher Verdichtung erzeugtes Zwielicht, das ein »Verschwinden der Farbe, ein Versinken in Dunkelheit«10 mit sich bringt, ist wie ein Gegenpol zu Emil Noldes Waldlandschaft Birken im Schnee (1903, Hamburger Kunsthalle), wo sich unter weißer Winterdecke bereits die Farben des Frühlings anschicken hervorzubrechen. Und doch bestehen zu der in Noldes Komposition inhärent enthaltenen Dialektik auch Parallelen. Wehrs Bilder oszillieren ebenfalls zwischen gegensätzlichen Polen, die hier in einem Umkehrpunkt konvergieren, in dem die Geschicke und Welten, »Tag und Nacht und Nacht und Tag« potenziell ineinander kippen können. Den Begriff des »Rauschens« hat der Künstler den gleichnamigen »Störungen« entliehen, die bei digitalen oder elektronisch aufgenommenen Bildern auftreten können und auch gezielt zu ästhetischen Zwecken eingesetzt werden. Er überträgt das Prinzip des fotografischen Rauschens auf die Malerei, um jene Dämmerzustände hervorzubringen, die sich im übertragenen Sinne wieder auf die Unklarheiten, das Verdeckte beziehen, die sich als Blackbox der Seele unserem Zugriff entziehen. Genau diesen schwer greifbaren, diffusen Untiefen und Fremdheiten, den in uns verborgenen geheimen Orten unserer Gefühle ist der Künstler auf der Spur.
In seiner Untersuchung unserer menschlichen Urgründe, unserer weit in die historische Ferne zurückweisenden Herkunft und unserer noch im Werden befindlichen Zukunft, begibt sich Wehr auch auf eine vielsträngige, intertemporale Expedition durch die Kunst- und Kulturgeschichte. Die Beschäftigung mit Rembrandts Helldunkel-Kontrasten und Goyas Pinturas negras (»Schwarzen Bilder«) oder Van Goghs erdigem Frühwerk zeigt sich in seinem Werk ebenso wie die Auseinandersetzung mit religiösen und mythologischen Stoffen sowie archetypischen Figuren, die von Wehr in die Jetztzeit transponiert werden. In farbig intensiven, zeichnerisch reduzierten Papierarbeiten, die zur dunkeltonigen, archaisch anmutenden Bildgruppe des Künstlers in Kontrast stehen, treten der gescheiterte Himmelsflieger Ikarus und Fruchtbarkeitsgott Priapos, Lehrmeister des Menschen und Feuerbringer Prometheus, Götterbote Hermes, der gefallene Engel Luzifer und Urvater Abraham in Erscheinung. Den Rebellen, Ungehorsamen und Widerständigen, die sich über Regeln hinwegsetzten und nach den Sternen zu greifen suchten, sind Wesen, die Mensch und Tier vereinen, gegenübergestellt. Sie kommen unter anderem in Arbeiten wie Eselspack (Zentaur) von 2007, wilde Raserei von 2008, Zugkräfte der Erdanziehung, Zwiegespräch (bipolar) oder mit den Wölfen heulen (alle von 2007) zur Darstellung. Letztere visualisieren unterschiedliche Transformationsstufen vom humanen in einen animalischen Zustand: Wir begegnen einer weit ausschreitenden Männerfigur, deren rückwärts gestrecktes Bein zu einem Leoparden mutiert. Der Leopard scheint in eine konträre Richtung zu streben, während der Mensch mit zackigem Schritt unbeirrt vorwärts schreitet, als merke er gar nicht, dass er gerade im Begriff ist, sich in ein Tier zu verwandeln. Auch Pferde-, Schlangen-, Schakal- und Wolfsmenschen sind in Wehrs Bildern unterwegs. Das Wilde nimmt vom Kultivierten Besitz, mag einerseits Befreiung sein, verkörpert andererseits die unkontrollierbaren Kräfte der Natur, weckt Urängste, führt das Unberechenbare, Ungezähmte als kreatürlich-ungebändigte Gegenkraft zum Fortschrittsdenken unserer Zeit ins Feld. Es werden darin auch Schmerz und Verzweiflung manifest, so in Bildern wie »Zwiegespräch« oder »Tagesfinsternis« von 2007.
In »Tagesfinsternis« ist eine aufgerichtete Figur, halb Mensch, halb Tier, unter schwarz verdunkelter Sonne an angedeutetem Meeressaum zu sehen. Im Hintergrund taumelt ein Hochhaus wie von einem Sturm oder Erdbeben erfasst: Eine Katastrophe bahnt sich an. Vielleicht konnte diese auch gerade noch abgewendet werden. Beides ist möglich. Peter Wehr sieht das Entwicklungsdrama unseres Menschseins nicht so sehr und schon gar nicht ohne weiteres als stete Progression hin zu einem höheren Sein. In seinen Bildwelten wird die Entfremdung spürbar, die uns Menschen vom Eigentlichen weg- und in den Abgrund hineinzuführen droht – eine Auflösungs- und Sinnentleerungsbewegung, der keine »ordnende Vernunft«12, wie es der Künstler nennt, mehr entgegensteht. Diese Diaspora des Herzens und der Seele, die von der Gruppe der Umherhastenden, Unbehausten essenziell verkörpert wird, könnte durch die (Wieder-)Herstellung einer Balance zwischen Vernunft und lustvoller Schöpfung, Ordnung und (kreativem) Chaos aufgefangen werden, die im Bild »eins und doch verschieden (Apoll und Dionysos)« von 2007 zur Anschauung kommt.