Text im Katalog zur Ausstellung
»Hombres«, 2010
von Michael Scholz-Hänsel
in dem Casa de los Coroneles, La Oliva, Fuerteventura

Vom Menschenbild zum Männerbild

„Hombres“, das sind im Spanischen die Menschen aber auch, und dies ist hier gemeint, die Männer. Die Geschlechterverhältnisse, das wird niemand bestreiten, haben seit den 1970er Jahren einen grundlegenden Wandel erfahren und dies betrifft Spanien ebenso wie Deutschland, auch wenn es im Detail Unterschiede geben mag. Noch immer werden Frauen in finanzieller und gesellschaftlicher Hinsicht benachteiligt, doch auf manchen Feldern haben sie erstaunliche Einzelerfolge eingefahren. In Deutschland regiert schon in der zweiten Legislaturperiode eine Bundeskanzlerin und gerade wurde zum ersten Mal eine Frau als Ratsvorsitzende an die Spitze der evangelischen Kirche gewählt. Demgegenüber lesen wir immer häufiger von einer Krise der Männer oder besser ihrer tradierten Geschlechterrollen.

I.

Vor diesem Hintergrund dürfen die Arbeiten von Peter Wehr, die jetzt unter dem Titel „Hombres“ gezeigt werden, besondere Aufmerksamkeit beanspruchen. Denn sie zeigen in drei Werkgruppen aus unterschiedlichen Zeiten Männer in sehr verschiedenen Kontexten.

Die erste Werkgruppe aus den Jahren 1957-60, neben Zeichnungen auch Holzschnitte und Radierungen, präsentiert Männer in einer ihrer klassischen Rollen zusammen mit Objekten der technischen Welt. Wir sehen Verkehrsmittel und Verkehrswege: Straßen und Schienenstränge, Autos, Motorräder, Kräne und Flugzeuge. Doch anders als bei Fernand Leger oder gar den Futuristen scheint das Verhältnis des Mannes zu seinen Produkten gestört. Wehr erreicht diesen Eindruck mit einer Vielzahl künstlerischer Strategien, zu denen auch surreale gehören, etwa wenn ein übergroßer Mann neben den Gleisen liegt oder ein anderer unter Zahnrädern seinen Kopf im Arm trägt.

Die Formensprache erinnert an den Stil der Neuen Sachlichkeit, wie er von Gustav Friedrich Hartlaub in der gleichnamigen Mannheimer Ausstellung propagiert wurde und der auch den frühen Dalí beeinflusste. Schon damals begegnen uns bei Hauptvertretern wie Rudolf Schlichter, Gustav Wunderwald und anderen die kalten, von der Industrie geprägten Stadtansichten, allerdings weitgehend als Zustandsbeschreibungen und ohne den kritischen Impetus unseres Künstlers. Neu sind bei Wehr die gezoomten und deshalb ungewöhnlichen Perspektiven, die die Dinge in extremer Nahsicht und ausschnitthaft zeigen. Auch die farbigen Arbeiten fallen zeichnerischer aus und verraten schon den Grafiker und Designer, der später so erfolgreich für die Hamburger Kunsthalle arbeitete.

Die zweite Werkgruppe mit Arbeiten aus den Jahren 1993/94, Bleistift- und Farbstiftzeichnungen sowie Pastelle, umfasst zwei Themen. Zum einen sehen wir den stark reduzierten Kopf eines Mannes, der zu farbigen Kreisen und Bändern in Bezug gesetzt wird, die entfernt an kosmische Symbole erinnern. Wiederholt umrundet ein roter Kreis, gefüllt mit einem schwarzen Loch, den Kopf und nimmt ihn einmal sogar in sich auf. Sehr viel zahlreicher sind die Aktdarstellungen zweier Männer, die verschiedene körperliche und gestische Beziehungen zueinander eingehen. In allen Fällen handelt es sich um Querformate, die in der Regel nur den Rumpf, nicht aber die Köpfe und die Beine erkennen lassen. Wahrscheinlich entspricht es den Geschlechterrollen, dass wir bei zwei nackten Männern zunächst Ringer assoziieren. Deren Darstellung gibt es zwar auch, aber Kampfhaltungen bilden nur eine Variante der vielfältigen Gesten. Ebenso findet sich gleich zweimal die vertraute Hand auf der Schulter des Partners. Die Männer verkörpern einen muskulösen und sportlichen Typ, der den Vergleich mit Michelangelos „David“ wach ruft. Doch gerade in diesen Gegenüberstellungen wird der Wandel sichtbar. Es fehlt den „Ringern“ die klassische Haltung und die Selbstverständlichkeit ihrer Gesten. Sie testen nur noch aus, wovon sie gehört haben und homoerotische Motive sind unverkennbar.

Die dritte Werkgruppe schließlich ist nicht nur die vielfältigste, sondern auch die umfangreichste. Sie entstand in den Jahren 2006 bis 2009. Neben Kreidezeichnungen finden sich Arbeiten in Mischtechnik auf größeren und ganz großen Formaten (ca. 180 x 140 cm). Aus den Doppelfiguren sind größtenteils Einzeldarstellungen geworden, die weiter nackt, aber nun mit Kopf agieren. Besonders auffällig sind die Metamorphosen, die einige dieser Körper durchleben. So verwandeln sich, scheinbar auf den Spuren Kafkas, wiederholt menschliche Beine in Tierleiber oder auch Häuser, Flaschen und Sägeblätter. Dabei machen sich auch brutale und gewalttätige Aspekte bemerkbar. Auffällig ist ein Triptychon mit einem Hochformat in der Mitte und zwei Querformaten an der Seite. Je drei Köpfe rahmen einen hingestreckten, stark blutenden Körper (S.221,justo y sin embargo no legítimo / gerecht und doch nicht rechtens (Marsyas)

. Alle diese Arbeiten sind mit Texten versehen. Auf einem anderen Werk begegnen uns lediglich Körperfragmente, weitere Leiber scheinen Verletzungen erfahren zu haben. Spätestens an dieser Stelle stellen sich Assoziationen an die "Wiener Körperkunst" ein. Ich denke an das Werk von Egon Schiele aber auch Maria Lassnig. Wie im Fall ihrer „Körperbewußtseinsbilder“ (engl. Body-Awareness-Painting) darf man wohl auch bei Wehr nun in seinen Männerbildern Spiegel eigener Gefühle vermuten. Doch auch die klassische Tradition scheint nachzuwirken, denn gleich zweimal begegnet uns die Darstellung eines Zentauren und bei einer stehenden Figur mit Hörnern, deutlichem Penis und beharrten Beinen dürfte es sich um die mythologische Figur von Pan handeln. Mehrere Köpfe weisen kleine Bockshörner auf und könnten Faune darstellen.

II.

Das große Thema der 1950er Jahre waren die Folgen des Zweiten Weltkrieges für das Menschenbild, vielleicht am deutlichsten in der Fotografie. Nicht zufällig hieß die berühmte Wanderausstellung von Edward Steichen 1955 „The Family of Man“ und die moderne Richtung unter der Führung der Fotoagentur „Magnum“ sowie Henri Cartier Bressons „Humanistische Fotografie“.


„Das Menschenbild in unserer Zeit“ lautete auch das Thema des Ersten Darmstädter Gespräches 1950, einem für die junge Bundesrepublik zentralen Diskussionsforum. Hier verteidigte der Maler Willi Baumeister erfolgreich seine abstrakte Kunst gegen die Kritik des konservativen Hans Sedlmayr, dessen Buch „Verlust der Mitte“ zu einem Bestseller geworden war.

In Deutschland war die Kunst nach 1945 durch die Alliierten politisch aufgeladen und polarisiert worden. Die DDR-Maler hatten im Sinne des Stalinismus naturalistisch zu arbeiten, in der BRD propagierte der CIA die Abstraktion nach dem Modell von Jackson Pollock, dessen Werke auf der documenta 1959 in Kassel auch dann noch gefeiert wurden, als sich mit Robert Rauschenberg schon andere Tendenzen bemerkbar machten. In Spanien begann damals der Siegeszug von „El Paso“.

Peter Wehrs frühe Arbeiten fallen hier gleich in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen. Er folgte nicht dem Gebot zur Abstraktion und statt dem Menschenbild thematisierte er das Männerbild. Auch seine kritische Haltung zur Technik will so gar nicht mit dem Fortschrittsglauben des deutschen Wirtschaftswunders korrespondieren. Parallelen gibt es allerdings zur Literatur, vor allem zu Max Frischs Roman „Homo Faber“ von 1957. In diesem damals viel gelesenen Text wird ein vollkommen rationalitätsgläubiger Mann Opfer unkalkulierbarer Zufälle, die Gesetzen der griechischen Tragödie gehorchen. Auf einer Reise durch Griechenland muss er erkennen, dass es Dinge jenseits der von ihm als Mann so gut beherrschten Technik gibt, die ihn und seine Familie ins Unglück treiben.

Wehr hat in Stuttgart, d.h. in Baden-Württemberg, studiert, wo die figurative Kunst auch nach dem Krieg eine Heimat oder besser ein Exil behielt, etwa in den Grafiken von HAP Grieshaber. An der Karlsruher Akademie hatte einst Carl Hofer begonnen,

später arbeitete hier Horst Antes, der ähnlich wie Luis Gordillo in Spanien, in den 1960er Jahren mit seinen Kopffüsslern zur Figur zurückkehrte. Als Hochschullehrer

propagierten dann Markus Lüpertz und Georg Baselitz in den 1980er Jahren, zunächst noch gegen erheblichen Widerstand, die Rückkehr zur Gegenständlichkeit.

Zwanzig Jahre später erleben wir heute eine Rückkehr der alten Diskurse. Eine Wanderausstellung zeigte in Deutschland „Humanism in China. Ein fotografisches Portrait“ und allerorten wird wieder von Menschenbildern gesprochen. So spiegelte die Mannheimer Kunsthalle von 1999 „Menschenbilder. Figur in Zeiten der Abstraktion (1945-1955)“ auch eine Zeittendenz.

Nicht mehr nur der Homo Faber auch der Homo Oeconomicus ist gegenwärtig in Verruf gekommen und so lässt Wehr, in einer gewissen Parallele zu Max Frisch, in seinen aktuellen Bildern einige der mythologischen Figuren wie Zentauren und Faune, zurückkehren, die einst der Ratio zum Opfer fielen. Aber der bedeutsame Wechsel in seiner Kunst ist der vom Menschenbild zum Männerbild. Denn indem Wehr sich entschieden hat, das starke Geschlecht zum Thema seiner Ausstellung auf den Kanaren zu machen, betritt er tatsächlich Neuland.

III.

Wehrs Rückblick aus aktuellen Positionen auf die eigenen Arbeiten der späten 1950er Jahre unter dem Titel „Hombres“ bringt auch für uns Erkenntnisgewinn. Die drei vorgestellten Werkgruppen legen nicht nur unbestreitbare Veränderungen im Männerbild offen, sondern spiegeln auch entsprechende Entwicklungsphasen in der deutschen Nachkriegskunst. Wird in der ersten Werkgruppe, gerade im Vergleich mit den Arbeiten der Neuen Sachlichkeit, die bis dahin unbestrittene Rolle des „Homo Faber“ in Frage gestellt, so scheint mir in der zweiten Werkgruppe das Aufbegehren der vor allem männlichen Neoexpressiven im Umfeld der Galerie Werner: Markus Lüpertz, Georg Baselitz etc. in den 1980er Jahren nachzuklingen. Während die Frauen zu diesem Zeitpunkt sehr erfolgreich neue künstlerische Medien, wie Foto, Video und Performance, erobert hatten, blieben sie auf dem traditionellen Feld der Malerei noch in der Defensive. Doch brachten die Erfolge der deutschen Mal auch hilfreiche Veränderungen fürs Männerbild oder bewiesen sie nicht nur die fortdauernde Notwendigkeit zur Reform der Geschlechterrollen?

Erst in der dritten Werkgruppe von Wehr scheint dieses Neuland betreten. Ganz klar geht es um Gefühle, konkreter um das Offenlegen von Verletzungen, ein Feld, dass in der Kunstgeschichte gerne den Frauen zugeschrieben wurde und hier endlich auch für Männer beansprucht wird. Die Ergebnisse sind heterogen, wie vor allem die Bilder großen Formates zeigen. Täter und Opfer agieren nebeneinander. Der Tod spielt in der Fußballmannschaft mit. Der zum Kampf mit Waffen Gerüstete und der Märtyrer haben eigene Bilder bekommen. Pans Metamorphose scheint außer Kontrolle geraten: statt nur der Bocksbeine bilden sich aus seinen Gliedern nun Hundeköpfe und Schlangenkörper, die ihn selbst bedrohen. Der starke Mann trägt viele dunkle Köpfe mit sich, deren schwarze Augenlöcher uns an die „Pinturas Negras“ von Francisco Goya gemahnen. Wie bei dem Aragonesen fragen wir uns, was hier seziert wird, Geschlechterrollen, gesellschaftliche Missstände, eigene Befindlichkeiten oder alles zusammen?

Die spanische Gleichsetzung von Menschen und Männern gilt schon lange nicht mehr. Nicht nur Feministinnen hatten sie kritisiert. Der hier behauptete Schritt vom Menschenbild zum Männerbild bildet in gewisser Weise die Umkehrung alter Diskurse. Nicht mehr aus einem Gefühl der Unterdrückung, sondern aus dem eines Defizits wird die „Koedukation“ für eine Ausstellung aufgekündigt und nach neuen Wegen im Geschlechterverhältnis gefragt.